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Yamanni Ryu - Bojutsu von Okinawa

William H. Haff im Interview mit Sensei Toshihiro Oshiro 

Alle Kampfkünste haben ihre Wurzeln in den menschlichen Erfahrungen und im menschlichen Körper, wie ein Meister formulierte: „Alle Kampfkünste entspringen aus zwei Armen, zwei Beinen, einem Kopf und einem Herz.“ Aber viel von der Geschichte und dem Hintergrund der Kampfkünste blieben bis heute verborgen (ein Mysterium). Weil die Trainingsmethoden, Techniken und Katas durch mündliche Anweisungen weitergegeben wurden, fast heimlichtuerisch von Angesicht zu Angesicht, ist es für Leute, die sich heute damit beschäftigen, sehr schwierig zu wissen, was wirklich traditionell ist, was sich geändert hat und was im Laufe der Zeit in der Versenkung verschwunden ist.

Yamanni-Chinen Ryu Bojutsu bietet heutigen Kampfklünstlerneinen Einblick auf eine Kampfkunst, die im Laufe der Zeit relativ unverändert geblieben ist und stellt eine Art Spiegel oder Werkzeug dar, mit dem man seine eigene Bewegung und die Ausführung der eigenen Technik untersuchen kann. Sensei Toshihiro Oshiro brachte diese Waffenkunst von Okinawa in die USA, wo er sie innerhalb der Kampfkunstinteressierten verbreiten will. Dieser fließende und immens kraftvolle Waffenstil ist ein wundervolles Beispiel einer traditionellen, hoch entwickelten Kampfkunst Okinawas, die den modernen Kampfkunstinteressierten zugleich zeigen kann, wie es funktionierte und wie es funktionieren sollte. 

Sensei Oshiro ist Träger des 8. Dan im Shorin-Ryu Karate und des 8. Dan im Yamanni-Chinen Ryu bojutsu. Er ist der Chefausbilder für das Ryukyu Bujutsu Kenkyu Doyukai in den USA. Dieser Verband ist offen für alle Kampfkunstinteressierten, denen die Entwicklung und Förderung des traditionellen Budo Okinawas am Herzen liegt. Oshiro lehrt gegenwärtig Karate und Waffenkunst an seinen Dojo in San Mateo in Kalifornien. Unter seiner Leitung werden auch Seminare und Demonstrationen in den ganzen USA sowie in anderen Ländern wie Panama, Jordanien, Jamaika, Frankreich, England, Bermuda und Deutschland durchgeführt. In diesem Interview spricht Sensei Oshiro über einen Vergleich der alten gegenüber den modernen Kampfkünsten und darüber, wie Yamanni-Chinen Ryu sein allgemeines Verständnis von Kampfkünsten vertieft hat. 

William Haff: Sensei, Sie sind bekannt für beide Kampfkünste – Karate und Bo. Haben Sie immer beides ausgeübt?

 

Toshihiro Oshiro: Ähnlich wie bei einem Fahrrad sind Bo und Karate wie "zwei Räder" der Kampfkünste Okinawas. Die Geschichte und die Kultur von beiden Künsten sind sehr tiefgründig. Während meiner Schulzeit trainierte ich im Rahmen meines Sportunterrichts sowie in der Vorbereitung auf unsere Dorffeste sowohl Karate als auch Bo. Aber das Karate und Bo, was wir in meinen Schuljahren ausübten, war eher wie eine Art Volkskunst. Es war weder tiefgründig noch anspruchsvoll im Sinne einer wahren Kampfkunst. Ich  begann mit meiner formellen Ausbildung im Shorin-ryu Karate erst, als ich auf die High School ging. Mit dem Yamanni-Chinen Ryu Bo fing ich ein paar Jahre später an.

WH: Haben Sie neben Karate und Waffenkunst noch andere Kampfkünste betrieben?

TO: Ich habe auch Judo und Kendo trainiert, ich habe mich aber immer auf meine Wurzeln, das Karate und Kobujutsu konzentriert. 

WH: Wie kam es, dass Sie zuerst Karate und dann Bo studierten?

TO: Obwohl Bo eine große Bedeutung in unserer Geschichte hat, gibt es in Okinawa nicht so viele Ausbilder dafür. Bojutsu ist nicht so populär wie Karate und die Lehrer bemühten sich auch nicht darum, ihre Kampfkunst bekannt zu machen. Als ich in den Dojos Mr. Shimas und Mr. Kishabas beitrat, sowie während meines Aufenthaltes in Sensei Nagamines Dojo, praktizierte ich hauptsächlich Shorin-Ryu Karate aber auch ein bisschen Bo. Als Anfänger hatte ich allerhand zu tun, Karate zu lernen. Außerdem war die Bo-Technik, die ich mit anderen Schülern übte, nicht besonders anspruchsvoll. Eines Tages wurde bei einer Kampfkunst-Vorführung eine Bo-Übung gezeigt, die relativ ähnlich zu dem war, was ich immer übte. Ich bekam zufällig mit, wie einige Kendo Schüler diesen Bostil kritisierten, dass er zu steif, zu uneffektiv war und ich war derselben Meinung. Wenn ich sah, wie weit das Bo in unserer Kultur verbreitet ist, dachte ich mir es müsste einen anderen, tiefgründigeren Stil geben. Aber ich wusste nicht, wonach ich suchen sollte, bis ich einmal Sensei Kishaba zu Hause besuchte und sah, wie er in verschiedenen Stilen mit dem Bo umging. Als er mein Interesse erkannte, stellte er mich seinem Bruder vor. So kam ich zum Yamanni-Ryu. 

WH: Gehörte zu dem Lehrprogramm im Dojo nicht, dass Ihre Lehrer Ihnen zeigten, wie Sie üben sollten?

TO: (lacht) Niemals! Das ist nicht die okinawanische, das ist die japanische Art zu lehren. Meine Lehrer zeigten manchmal etwas, aber ich musste für mich selbst schon oft nachforschen. Und bevor ich begann, unter Meister Chogi Kishaba Bo zu praktizieren, hatte er sich in Wirklichkeit zur Ruhe gesetzt und Yamanni-Chinen Ryu würde mit ihm verloren gehen. So ernsthaft und eigensinnig sind sie, wenn es um ihre besondere Bo-Kunst ging. Und wenn mein Sensei mir einige Information gab, wie eine besondere Technik oder Kata, war es mir nicht erlaubt, wieder zu ihm zu kommen, bevor ich diese Technik genügend studiert und geübt hatte. 

WH: Bei einer Wahl zwischen Karate und Waffenkunst, was würden Sie bevorzugen?

TO: Keines von beiden. Ich mag beide Stile sehr gern (lacht) und eigentlich sollte ich sagen, ich hasse beide denn das Training endet nie und wird auch nie genug. 

WH: Warum praktizieren Sie beides Karate und Waffenkunst?

TO: Seitdem ich mich auf die Kampfkünste spezialisiert habe, darauf, wie man sich bewegt, wie man seinen Körper effektiv kontrolliert, erkannte ich, dass das Training sowohl mit leeren Händen als auch mit Waffen dafür geeignet ist. Die Lehrer auf Okinawa praktizierten beide Künste aber aus verschiedenen historischen Blickwinkeln. Mein Bo-Lehrer war ein direkter Schüler von Chojun Miyagi, dem Gründer von Goju-Ryu. Und sein Lehrer, Masami Chinen, studierte Shuri Karate, und lernte auch etwas von Sensei Miyagito, glaube ich, wie Stellungen, oder vielleicht Fußtechniken. 

WH: Was meinen Sie mit „aus verschiedenen Blickwinkeln“?

TO: Ich meine sowohl historische als auch technische. Historisch gesehen hat sich Karate geändert, Bo und Yamanni-Ryu aber nicht. Technisch gesehen liefern also Stellungen, Fußtechnik, und wie man die Kraft mit Bo stärkt, einen anderen Aspekt von Karate. 

WH: Wie hat sich Karate geändert? Können Sie das etwas näher erklären?

TO: Natürlich, ich kann nur über meinen Karatestil, den Shuri Stil, sprechen, aber ich glaube es gilt auch für alle Arten des Karate im Allgemeinen. Das Karate, was ich studiere, und das, was in den meisten Dojos heute gelehrt wird, ist modernes Karate. Vor langer Zeit wurde Karate sehr individuell, von Angesicht zu Angesicht, gelehrt. Training und Kenntnisse wurden persönlich von Lehrer zu Schüler im Privatunterricht vermittelt. Als Itosu Anko vor etwa 100 Jahren beauftragt wurde, ein Sportprogramm für das öffentliche Schulsystem in Okinawa zu entwerfen, hatten er und sein Schüler, Yabe Kentsu, Karate sehr verändert. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will jetzt keine Kritik üben. Zu dieser Zeit öffneten sich Okinawa und Japan der modernen Welt und sie wollten ein modernes Bildungssystem. Itosu und Kentsu mussten einen Standard erschaffen, eine schrittweise Methode aufbauen, um viele Leute auf ein Mal in einer Klassenstruktur zu unterrichten. Um dies zu tun, und um den Kindern mehr Sicherheit zu gewährleisten, entwickelten sie die Pinan Katas und veränderten Techniken und Timing, damit sie einfacher zu verfolgen sind. Auf technischer Seite wollten sie Karate zum Studienzweck sicherer machen.  

Beispiel: Ich hörte, dass im altertümlichen Karate die Techniken mit der offenen Hand sehr oft angewandt wurden. Ich denke, Itosu legte viel Wert auf die Faust, erstens weil er diese Technik mochte und zweitens weil die Faust die Finger schützt, besonders bei Kindern. Sie nahmen auch viele gefährliche Techniken, wie Schläge in die Augen oder Gelenke heraus, die sehr gängig im alten Karate waren nicht nur die Jodan und Chudan Ziele, wie wir heute meist sehen können. Und weil sie sich für körperliche Kondition interessierten, wurden die Fußtritte bis Bauch- oder sogar Kopfhöhe angehoben, obwohl früher solche Techniken nie höher als zur Leiste gingen. Es gibt aber auch tiefere Gründe, warum sie Karate geändert hatten. 

WH: Was meinen Sie?

TO: Im alten Karate gab es, wie ich hörte, sehr viel „doseki-sayo“ oder isometrisches Training, um die eigene Kraft zu verstärken. Obwohl diese Art von Training durchaus gut war, war es auch sehr einfach für die Karatekas, dieses „doseki-sayo“ zu übertreiben, und sich damit selbst zu verletzen. Deshalb nahmen Itosu und andere Ausbilder diese Art des Trainings aus ihrem Programm heraus und wir haben doseki-sayo im modernen Karate nicht mehr. Bo hatte keinerlei doseki-sayo, keinerlei isometrische Technik, da dies für Bo keinen Sinn gibt. Dadurch wurde die alte Art und Weise, wie Bo praktiziert wird, nie verändert oder beeinflusst, als sich das moderne Karate entwickelte.

Ich lernte Yamanni-Chinen Ryu direkt und individuell von Sensei Kishaba. Es gab nie Unterricht in einer Klasse.

WH: Sie verwenden also Botraining, um Karate zu verstehen?

TO: Ja, doch das ist auch für alle ernsthaften Kampfkünstler vernünftig. Ich studiere beides, Waffenkunst und Karate, um meine Kunst zu vertiefen. Die alten Lehrer pflegten es auch zu tun, denke ich. Sie beobachteten andere Stile oder unterhielten und praktizierten mit anderen Ausbildern, um einige neue Techniken hinzuzufügen, oder vielleicht nur um ihre eigenen Techniken zu kontrollieren. Durch einen Vergleich zwischen den beiden Künsten ist es aber auch möglich zu erfahren, wie Karate früher war oder sein sollte. Im Karate ging eine ganze Menge im Laufe der Zeit verloren und ich bin sehr interessiert, diese wieder herauszufinden. In meinem früheren Training sprach Sensei Nagamine über den Unterschied zwischen Koshi und Gamaku, also der Forder- und Rückseite des Körpers, und darüber wie man Kraft und Konzentration entwickeln kann. Erst als ich Bo sehr tiefgründig studierte, konnte ich verstehen, wovon er geredet hatte.

WH: Sie empfehlen und ermutigen jeden Karateka jeder Stilrichtung das Botraining sowie die Waffenkunst zu trainiern?

TO: Wenn sie sich dafür und auch für Waffen interessieren, auf jeden Fall. Es hängt davon ab, wie tiefgründig sie es studieren wollen. Mein Lehrer und andere alten Meister kamen aus vielen verschiedenen Karatestilen. Obwohl wir von Yamanni Stil reden, beziehen wir uns auf die technische Art und Weise. Aber dies kann man nicht vergleichen mit der technischen, politischen und organisatorischen Art und Weise eines Karatestiles. Es gibt kein Shorin-Ryu Bo oder Goju Bo. Es gibt nichts dergleichen.

WH: Und nun wollen Sie Yamanni-Chinen Ryu bekannt machen?

TO: Das ist ein Wunsch von Sensei Kishaba an mich. Yamanni-Ryu ist ein sehr alter und wohl entwickelter Bostil in Okinawa, aber nicht sehr weit verbreitet und anerkannt in der modernen Gesellschaft der Kampfkunst, sowohl in Okinawa als auch in der Welt im allgemeinen. Wir hoffen, das ändern zu können, denn dieser Stil bietet den seriösen Kampfkünstlern aus fast allen Stilrichtungen sehr viele Vorteile.

WH: Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?

TO: Es gibt für uns zwei Aufgaben zu lösen. Die erste ist, ein Trainingsystem mit einer eindeutig definierten Vorgehensweise zu entwickeln, beginnend mit Grundtechniken und Trainingskatas für jede einzelne Waffe (Bo, Sai, Tonfa, Kama, Nunchaku) bis hin zu fortgeschrittenen Formen und traditionellen Katas des Yamanni-Chinen Ryu. Die zweite Aufgabe besteht darin, dass wir diesen Stil innerhalb der Gesellschaft der Kampfkünste mehr zeigen, durch Vorführungen, Seminare und Turniere, sowie auch durch andere Medien, wie diesen Artikel und Videos. Seit einigen Jahren spüre ich ein wachsendes Interesse am Waffentraining im allgemein und viele zeigen auch großes Interesse an dem, was wir mit Yamanni-Ryu tun. Unser Stil unterscheidet sich sehr von anderen Waffenstilrichtungen, und zwar dadurch, wie wir uns bewegen und wie wir die Techniken ausführen. Ich denke, viele sind wirklich davon überrascht. Eines von dem, was wir tun, ist, ein freier Partnerübungs-Kampf mit Bo für die Turniere, ähnlich wie im Naginata oder Kendo-Wettbewerb. Als wir es in meinen Seminaren gezeigt haben, schien es die Leute sehr in Aufregung zu versetzen.

 WH: Beim Aufbau Ihres neuen Systems können Sie solche Veränderungen vermeiden, die zustande kamen, als Sensei Itosu modernes Karate erschuf?

TO: Das ist ein sehr ernsthaftes Bedenken. Wir versuchen, die beste Trainingsmethode für diesen Stil zu organisieren. Ich will nicht, dass meine Schüler mit vielen Schwierigkeiten bei der Suche danach, wie sie sich bewegen sollten, konfrontiert werden. Als ich bei Sensei Kishaba anfing, gab es nur individuelles Training und keinen konkreten Lehrplan. Wir begannen sofort mit der Kata Suuji-no-kun, viele Male, und ich musste auswendig lernen und alles selbst herausfinden. Was ich will, ist eine Anleitung, eine Art Straßenkarte zu entwickeln, die den Schüler helfen kann, sich von einem Punkt zum Anderen zu bewegen, ohne dass die grundlegende Dynamik unseres Stils verloren geht. Ich muss ein System aufbauen, das sich nach der westlichen Mentalität richtet, das zu ihrem Bildungs- und kulturellen Hintergrund passt. Darüber mache ich mir viele Gedanken und plane es sehr sorgfältig. 

WH: Zu guter Letzt, haben Sie irgendeine persönliche Bemerkung oder Empfehlung aus Ihren Erfahrungen an die Kampfkünstler von heute?

TO: Sie sollen die Anweisung ihrer Lehrer sehr genau befolgen. Sie müssen aber ihren Körper verstehen, ihre Schwächen sowie ihre Stärken erkennen. Kata wirklich jeden Stils gibt ihnen eine Anleitung, eine Art Spiegel, damit sie ihre eigenen Techniken untersuchen, kontrollieren können. Ab einem bestimmten Niveau müssen sie ihren Geist öffnen, sich mit anderen Kampfkünstlern unterhalten und versuchen, für sich selbst herauszufinden, warum und wie ihre Bewegungen sein sollten. Öffnen sie die Augen vor unterschiedlichen Stilrichtungen und vor verschiedenen Künsten. Denn es gibt einige Gründe dafür, warum ihre Trainingsmethode sich so entwickelt hat, und deshalb sollten sie versuchen, diese Gründe herauszufinden und zu verstehen. Trainieren sie hart, erweitern die eigenen Grenzen und geben sie niemals auf. Und viel Glück ....


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